tagebuch | 29.08.2016

beim lungenarzt. über dem anmeldetresen das wort »lächeln« in goldener handschrift, das mir zuerst deplatziert erscheint, weil die hauptklientel dieser praxis vermutlich nicht viel zu lachen hat, und dann doch genau richtig, weil lächeln, was auch immer man zu tragen hat, erträglicher machen kann. und selbst die beiden arzthelferinnen hinter dem tresen scheinen, ganz gegen das berliner klischee, gut gelaunt zu sein. es ist montagmorgen, 8 uhr 30, noch nichts los hier, die bergmannstraße erwacht gerade erst, und ich stehe ein wenig außer atem und fast schuldbewusst darüber als erster patient des tages in diesem doch recht freundlichen flur, den ich mir beengter vorgestellt hatte, aber das war bestimmt nur die angst. wobei: angst trifft es nicht, die kenne ich gut und mag sie gerade darum nicht zu leichtfertig im munde führen, nur unbehagen, es hätte vielleicht auch jeder andere arzttermin sein können. aber als dicker mann, der seit über zwanzig jahren die hände nicht vom glimmstengel lassen kann, beschleichen einen doch von zeit zu zeit gewisse zweifel, ob das noch lange so gutgehen kann. irgendwann um meinen letzten geburtstag herum schrieb ich einmal, mein körper signalisiere mir immer deutlicher, dass er sein haltbarkeitsdatum allmählich erreicht habe, und das stimmt. und doch ist es natürlich ganz typisch für anfangvierzigjährige, in einen gewissen alarmismus zu verfallen: dem körper ist eben nicht zu trauen, da ist schon wieder ein marathonläufer, ein topmanager, ein junger familienvater, alle im nämlichen alter, einfach umgefallen und tot geblieben, man kennt die schlagzeilen und weiß, dem körper, auch dem eigenen, ist es im zweifelsfall völlig wurscht, in welchen lebensumständen man sich befindet, ob man noch viel vorhatte oder gar nichts, plötzlich kommt der tod und sagt »bitte lächeln«, man sieht noch das blitzlicht. eine der arzthelferinnen reicht mir einen fragebogen, den ich auf dem weg ins wartezimmer abkreuze; die vielen neins beruhigen mich fast wieder. kaum dass ich sitze, werde ich auch schon aufgerufen. im behandlungsraum steht eine glasbox, telefonzellengroß, darin ein stuhl und eine apparatur, die tatsächlich etwas von einem antiken telefon mit sprechrohr hat, da soll ich mich hineinsetzen, ein mundstück wird auf den apparat aufgesetzt, eine nasenklemme aus schaumstoff, die tür geschlossen. jetzt soll ich atmen. etwas ruhiger, bitte, nicht so angestrengt. und jetzt ganz tief ein und aus. noch einmal. noch einmal. mein hausarzt hatte mich hierhin überwiesen, nicht sonderlich besorgt, nur zur abklärung, falls, man weiß ja nie. noch einmal. über die letzten zwei monate, die ich auf diesen termin gewartet habe, hat mich dieses »man weiß ja nie« ganz hellhörig gemacht, innenhörig: tut da was weh in der brust, müsste ich da was spüren? wenn ich was spürte, wäre es dann schon zu spät? ist diese atemlosigkeit, wenn ich drei, vier stockwerke zu fuß hochgehe, eher fettleibigkeitsbedingt oder kommt das von einer langsam vor sich hinsterbenden, dabei stetig enger werdenden lunge? dass ich mich in den letzten jahrzehnten wahlweise nicht oder zu sehr geschont habe, ist offensichtlich; muss ich dafür jetzt den preis zahlen? und bin ich dazu bereit? wieder draußen im flur sitze ich zwischen einem alten mann mit rollator und einem jüngeren, der die beine nicht stillhalten kann. pfeifender atem von rechts, hektisches polyesterrascheln von links. ich will gerade zum ereader greifen, da schaut der arzt um die ecke. mein name. ich folge ihm ins besprechungszimmer, schon an seiner miene erkenne ich, was er mir gleich sagen wird. »na, das sieht doch ganz gut aus.« erläuterung meiner werte. kritischer blick. »erstaunlich gut.« das sagen sie immer. kein bluthochdruck, kein diabetes – erstaunlich. und immer muss ich lächeln.

ich beschließe, einen langen spaziergang zu machen. die wolken verheißen regen, aber jetzt noch nicht, die sonne scheint trotzig dagegen an, ein kühler wind weht. in neukölln stellen die händler ihre waren an die straßen, 9 uhr 30 und es riecht nach gebratenem fleisch. ich gehe eine weile vor mich hin, der kopf wird klar, ich bin, wird mir bewusst, fast glücklich. hinter der brücke am kiehlufer betrete ich ein café, bestelle mir einen latte und einen blaubeermuffin dazu und setze mich an einen der tische auf dem gehweg. das habe ich lange nicht mehr getan, fällt mir ein, überhaupt: mir einen tag freizunehmen und ihn nicht nur vor dem rechner zu verbringen. fast ist mir nach schreiben zumute, aber jetzt schlägt die halbe stunde des ereaders und die zigarette dazu schmeckt wie immer. als ich fast fertig bin, beginnt der baum über mir zu rauschen und regnet etwas, das aussieht wie kleine pistazienstücke, auf mich herab. ich weiß nicht, was es war, ich kenne diesen baum nicht, ich sage »na!« und stehe auf, schüttle mich, packe zusammen und gehe.

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